«Umbruch im Hochgebirge: Sicherheit muss vorgehen»
Carte blanche für Wilfried Haeberli, Universität Zürich
26.6.2024 – Die Hochgebirge der Erde mit ihren Gletschern und gefrorenen Gipfeln verändern sich rasant, immer weiter über unseren historischen Erfahrungsbereich hinaus und für viele kommende Generationen irreversibel. Im Diskurs zu Nutzung und Schutz neuer Landschaften im Hochgebirge müssen entsprechende Sicherheitsfragen prioritär abgeklärt werden. Die Landschaftsforschung muss dabei eine aktivere Rolle spielen.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Die schwindenden Gletscher geben im Hochgebirge laufend Gelände frei. In den so entstehenden Landschaften nehmen Anzahl und Ausdehnung neuer Seen zu. Am Fuss von Steilflanken sind Seen allerdings gefährliche Schönheiten. Wegfallender Gletscher-Gegendruck und bereits bis in grosse Tiefen aufgeheizter und «aufgeweichter» Permafrost schwächen die Stabilität von eisigen Steilflanken. Grosse Felsstürze werden häufiger. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass grosse Stürze Seen erreichen und gefährliche Prozessketten auslösen. Ein Sturz von rund 15 Millionen Kubikmeter aus einer Permafrost-Moräne löste im South Lhonak Lake (Sikkim Himalaya, Indien) am 3. Oktober 2023 eine Flutwelle aus, die bei Chungthang rund 60 Kilometer flussabwärts eine 60 Meter hohe Staumauer zerstörte, den gefüllten Speicher entleerte und flussabwärts über grosse Strecken Schäden anrichtete. Die Gefahr für solche Ereignisse steigt auch in den Alpen. So stürzten am 14. April 2024 am Piz Scerscen (GR) zirka 6 Millionen Kubikmeter Fels und Eis rund 5 Kilometer weit ins Tal. In einem grösseren See könnte ein solches Ereignis schlagartig grosse Wassermassen freisetzen.
Wissenschaftliche Grundlagen sind vorhanden
Die Forschung zu diesen Phänomenen ist intensiv. Die Alpenländer nehmen dabei eine wichtige Rolle ein. Schon vor Jahren wurden im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 61 der Schweiz Konzepte zum Umgang mit neu entstehenden Seen entwickelt – einschliesslich rechtlicher Fragen. International wurden Richtlinien zur Gefahrenbeurteilung publiziert. Weltweite Modellrechnungen liefern heute quantitative Informationen zum Rückgang der Gletscher, zur Verbreitung von Permafrost und zu bereits existierenden wie auch zu zukünftig wahrscheinlich entstehenden Seen. Internationale Expertinnen und Experten analysieren grosse Felsstürze und Seeausbrüche laufend mit modernsten Methoden. Die Resultate dienen dazu, bestehende Modelle – auch zur Wirkung technischer Massnahmen – zu überprüfen und zu verbessern.
Für das Risikomanagement entscheidend ist die Frage nach der Eintretenswahrscheinlichkeit von Ereignissen mit grossem Schadenpotenzial. Die Forschung entwickelt zurzeit erste Ansätze. In den Alpen ereignete sich im letzten Jahrhundert bis etwa 1980 oberhalb von 2000 m ü. M. rund alle 20 Jahre ein Ereignis mit einem Volumen von mindestens einer Million Kubikmetern. Solche «Millionenstürze» treten mittlerweile durchschnittlich alle 4 bis 5 Jahre ein. Mit den Stürzen am Piz Cengalo 2017 (3 Millionen m3), am Fluchthorn 2023 (1 Million m3) und am Piz Scerscen 2024 (6 Millionen m3) sind es im jüngsten Jahrzehnt sogar nur noch 3 bis 4 Jahre. Über Jahre und Jahrzehnte betrachtet – etwa im Zusammenhang mit Kraftwerkskonzessionen – liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Ereignis eintritt, gegenwärtig im Prozentebereich.
Sicherheit muss Priorität haben
Mit dem Klimawandel und dem Eisschwund im Hochgebirge nimmt die Gefahr von Felsstürzen und weitreichenden Flutwellen aus Seen zu. Besonders exponiert ist naturgemäss der Tourismus. Gefährliche Seen kann man nicht einfach sich selbst überlassen. Stauanlagen müssen geeignete Rückhalte- und Schutzfunktionen erfüllen können. Es braucht eine präzise und systematische Überwachung kritischer Bergflanken und die Installation von Frühwarn- und Alarmsystemen. Zudem müssen die Seespiegel bei kritischen Entwicklungen rasch abgesenkt werden können. Wo nötig, sind Mehrzweckanlagen anzustreben, die Optionen des Hochwasserschutzes, der Energieproduktion und der Wasserversorgung optimal mit Anliegen des Landschaftsschutzes kombinieren. Das Jungfrau-Aletsch-Gebiet, in dem sich ab den 2030er Jahren eine ganze Anzahl schöner, aber gefährlicher Seen bilden wird, würde beispielsweise mit einem Ausbau der Stau- und Rückhaltekapazität der Massa bei Gibidum entsprechende Möglichkeiten bieten.
Grundlage der Planung müssen systematische, überregionale und integrative Analysen der sich verändernden Hochgebirgslandschaften sein. Die Landschaftsforschung muss sich dieser Thematik viel stärker annehmen als bisher. Die Schweiz mit ihrem intensiv erschlossenen Hochgebirge, aber auch mit ihrem Wissen, ihrer Technologie und ihren Mitteln hat alles Interesse, dabei zügig voranzugehen.
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Wilfried Haeberli ist emeritierter Professor am Geographischen Institut der Universität Zürich. Von 1986 bis 2010 war er Direktor des World Glacier Monitoring Service. Er ist Erstautor des Buches «Snow and Ice-Related Hazards, Risks, and Disasters», das 2021 bei Elsevier erschienen ist.
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