Pflichtlektüre für Forschungsförderer
Um die Transformation der Gesellschaft in eine nachhaltige Zukunft voranzubringen, braucht es Forschungsprogramme, die Handlungsoptionen entwickeln und die gesellschaftlichen Wertefragen aufnehmen. Ein neuer Bericht zeigt auf, wie solche Programme aufgebaut sein müssen, damit sie Wirkung erzielen.
Diesen und weitere Artikel finden Sie im Jahresbericht 2023 der SCNAT.
INTERVIEW MIT GABRIELA WÜLSER
Vor dem Hintergrund des Klimawandels und des Verlusts an Biodiversität macht sich die Politik vermehrt Gedanken, wie die Gesellschaft in eine nachhaltige Zukunft geführt werden kann. Was trägt die Nachhaltigkeitsforschung dazu bei?
Die Nachhaltigkeitsforschung zeigt beispielsweise auf, wie unsere Energieversorgung mit der Übernutzung von Ökosystemen und sozialen Ungleichheiten zusammenhängen. Sie hilft uns, die Konsequenzen unserer Handlungsweisen zu verstehen, und sie skizziert mögliche Wege, wie sich die Gesellschaft in eine nachhaltige Zukunft entwickeln kann.
Ist die Wissenschaft dafür gut aufgestellt?
Gerade in der Schweiz hat die Nachhaltigkeitsforschung viel Potenzial. Das Wissenschaftssystem ist seit jeher stark darauf ausgerichtet, Phänomene zu verstehen und zu erklären. Das Entwickeln von Gestaltungsoptionen für Politik und Gesellschaft gehört hingegen noch zu wenig zum wissenschaftlichen Selbstverständnis. Die hohe fachliche Spezialisierung erschwert es zudem, dass die verschiedenen Disziplinen ihre jeweiligen Herangehensweisen gegenseitig verstehen.
Was muss sich ändern?
Lösungen für die konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen zu finden, ist ein komplexes Unterfangen. Es braucht dazu eine Zusammenarbeit verschiedener Fachgebiete sowohl aus Wissenschaft als auch aus der Praxis. Die Betroffenen müssen ebenso berücksichtigt werden wie die Entscheidungsträgerinnen und -träger. Kurz: Es braucht mehr inter- und transdisziplinäre Forschung. Dabei stehen nicht nur die Forschenden in der Pflicht, sondern das ganze Wissenschaftssystem. Dieses muss viel stärkere Anreize setzen, die neben der Grundlagenforschung auch eine wirkungsorientierte Forschung fördern und attraktiv machen.
Was ist in diesem Zusammenhang die Idee eures Berichtes «Leuchtturmprogramme für die Nachhaltigkeitsforschung und -innovation»?
Es reicht nicht, wenn man den Hochschulen sagt: «Passt eure Strukturen an, verfolgt kollaborative Ansätze und macht andere Forschung.» Ein entscheidender Hebel ist die Finanzierung. Unser Bericht zeigt auf, warum es dringend nötig ist, Programme für wirkungsorientierte Nachhaltigkeitsforschung gezielt zu finanzieren, und welches die besonderen Anforderungen dabei sind. Er bietet eine Art Baukasten, wie man solche Programme gestalten kann. Der Report richtet sich in erster Linie an Forschungsförderer wie den Schweizerischen Nationalfonds oder die Schweizerische Agentur für Innovationsförderung, aber natürlich auch an private Stiftungen im In- und Ausland.
Was sind die Anforderungen an solche Forschungsprogramme?
Neben den Herausforderungen, welche die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit mit sich bringt, ist es vor allem die Wertedimension, die beim Thema Nachhaltigkeit hinzukommt: Letztlich braucht es eine Antwort auf die Frage, welche Zukunft wir als Gesellschaft wollen. Diesen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess und den wissenschaftlich sauberen Umgang mit den verschiedenen Werthaltungen muss ein Forschungsprogramm ermöglichen. Das braucht Zeit und den Aufbau von Kompetenzen – und die nötigen finanziellen Ressourcen.
Was bedeutet das konkret?
Forschungsprogramme, die einer so komplexen Thematik gerecht werden sollen, müssen ein Budget in der Grössenordnung von 100 Millionen Franken aufweisen und etwa acht bis zehn Jahre laufen. Heutige Programme wie zum Beispiel die Nationalen Forschungsprogramme (NFP) sind zu klein und zu kurz.
Kontakt
Dr. Gabriela Wülser
SCNAT
Steuerungsgruppe Nachhaltigkeitsforschung
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