«Das Märchen von den Kosten des Klimaschutzes schadet der Schweiz»
Carte Blanche für Ralph Winkler, Universität Bern
30.3.2023 – Technologien, auch im Klimabereich, entwickeln sich oft exponentiell. In der Folge überschätzen wir die Kosten genauso massiv wie wir das Tempo der Implementierung unterschätzen. Da die Welt so oder so klimaneutral werden muss, führt kein Weg an einer raschen Dekarbonisierung vorbei, um den Wohlstand in der Schweiz zu sichern.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Soeben hat der Weltklimarat IPCC den jüngsten globalen Synthesebericht vorgestellt. Die Grundbotschaft ist seit Jahrzehnten dieselbe: so lange wir den Gehalt an Treibhausgasen in der Atmosphäre erhöhen, so lange wird die globale Durchschnittstemperatur der Erde ansteigen. Möchten wir den Anstieg unter 2°C halten, muss die Welt bis ca. 2050 «klimaneutral» werden. Aus heutiger Perspektive scheint dies vielen eine unmögliche Aufgabe. Nach wie vor steigen die jährlichen Treibhausgasemissionen an. Die globale Wirtschaft fusst auch im Jahr 2023 überwiegend auf Technologien, die entweder direkt oder indirekt fossile Energieträger verbrennen. Gerade wenn man sich die Fortschritte punkto Klimaschutz der letzten 30 Jahre ansieht, kann man sich kaum vorstellen, dass Klimaneutralität in den nächsten 30 Jahren möglich ist. Oder wenn doch, dann nur zu beträchtlichen Kosten, die ‒ so die landläufige Meinung ‒ unseren wirtschaftlichen Wohlstand massiv einschränke und ausserdem ungerecht sei, da sie ärmere Haushalte viel stärker belaste als Wohlhabendere.
Klimaschutz ist deutlich billiger als viele denken
Diese Sicht ist weit verbreitet. Die Angst vor hohen Kosten gilt als Hauptursache für die Ablehnung der CO2-Gesetzesrevision im Juni 2021, wie Nachwahlbefragungen zeigten. Nur: diese Sicht ist falsch. Die Angst vor Wohlstandsverlust und sozialer Ungerechtigkeit ist unbegründet. Zum einen sind die Kosten eines effektiven Klimaschutzes um Grössenordnungen kleiner als die möglichen Folgekosten eines nicht eingedämmten Klimawandels. Zum andern bestehen die «Kosten» für den Klimaschutz vor allem aus Investitionen in klimafreundliche Technologien. Aufgrund des exponentiellen Fortschritts neuer Technologien neigen wir dazu, diese lange Zeit zu unterschätzen, bis diese ‒ scheinbar über Nacht ‒ die alte etablierte Technologie hinwegfegen. Dies erleben wir gerade bei der individuellen Mobilität. Elektroautos, vor wenigen Jahren noch als Kleinstnische belächelt, haben die Schwelle der Massenproduktion längst überschritten. Setzt sich die bisherige exponentielle Entwicklung fort, wird der Verbrennungsmotor noch vor 2030 aus dem Neuwagenmarkt für Personenwagen in der Schweiz verbannt sein (siehe Abbildung 1). Auch bei der Wind- und der Solarenergie ist die Entwicklung ähnlich, wie etwa der IPCC-Bericht zeigt.
Die Frage ist längst nicht mehr ob, sondern nur noch wann wir klimaneutral werden. Dies gilt für die ganze Welt. Investitionen in Klimaschutztechnologie sind deshalb unerlässlich, um unseren wirtschaftlichen Wohlstand und Arbeitsplätze zu erhalten und zu mehren. Andere Länder haben dies längst erkannt und bringen entsprechende Klimapolitiken auf den Weg. Jüngstes Beispiel sind die USA, die inländische wie ausländische Firmen mit Milliardensubventionen im Bereich Cleantec locken.
Klimaschutzsektor ist ein rasant wachsender Wirtschaftszweig
Tatsächlich ist der Umweltschutzsektor einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige weltweit. Auch in der Schweiz nimmt dieser stärker als die Volkswirtschaft insgesamt zu. Allerdings droht die Schweiz ‒ durch ihre einseitige Fixierung auf die Kostendiskussion ‒ den Anschluss zu verlieren. Für die Schweiz wird es höchste Zeit, ihre guten Startvoraussetzungen zu nutzen und umfassend in den vielversprechenden Klimaschutzsektor zu investieren.
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Ralph Winkler ist Professor für Umwelt- und Klimaökonomie der Universität Bern.
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